Nicht erst seit gestern befindet sich das Christentum in der Situation einer tiefgreifenden Transformation: Kirche und Glauben verlieren in den westlichen Gesellschaften zunehmend an Autorität und Plausibilität für Leben und Selbstverständnis des (post)modernen Menschen. Ist diese Situation für die einen Anlass zur Bewahrung des Kerns der christlichen Botschaft vor relativistischen Aufweichungen und für die anderen Anlass zur Kritik an der Kirche und ihren überkommenen Institutionen im Namen liberaler Freiheiten, so sieht der französische Historiker, Kulturwissenschaftler, Theologe und Jesuit Michel de Certeau (1925-1086) die Aufgabe der Theologie heute vielmehr darin, neue und andere Gestalten und Stile der Theologie und gläubigen Praxis zu entwickeln und zu erproben, die den Verlust an Deutungsmacht und Selbstsicherheit als solchen produktiv werden lassen. Es gilt, „zu akzeptieren, dass man schwach ist, die lächerlichen und heuchlerischen Masken einer kirchlichen Macht, die es nicht mehr gibt, abzuwerfen und der Selbstzufriedenheit ebenso eine Absage zu erteilen, wie der ‚Versuchung, Gutes zu tun‘“ (GS 249). Diese Schwachheit lässt De Certeau produktiv werden in einer zwischen Mystik und Politik situierten Theologie und Praxis. Ihr Gegenstand – Gott/das Absolute – ist ihnen nicht (mehr) verfügbar. Er ist anwesend nur in Form einer Abwesenheit, erreichbar nur im Modus des Vermissens und der Aufmerksamkeit für „das Schweigen, das in uns von einer absoluten Differenz spricht“. Und er ist realisierbar nur im Modus der Inkarnation des Glaubens „in den Körper der Welt und den sterblichen Körper“, in dem die Abwesenheit des Absoluten zum Ausgangspunkt einer 

politischen Praxis wird. Grundlinien dieser mystisch-politischen Theologie entwickelt De Certeau in der Aufsatzsammlung „GlaubensSchwachheit“, der das Seminar gewidmet ist.

Die Relevanz von De Certeaus politisch-mystischen Reflexionen reicht dabei – methodisch wie systematisch – weit über die Theologie im engen Sinn hinaus: In ihnen treffen sich sein heterologischer – an Alterität(en) orientierter –, sein praxeologischer – auf (Alltags)Praktiken reflektierender – und sein (post)strukturalistischer – auf textuelle Funktionen und Manifestationen achtender – Ansatz, der (oder besser die) in Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaften zunehmend breit rezipiert werden.

Das Seminar ist zweigliedrig aufgebaut: Der erste Teil dient der Einarbeitung in Grundzüge des Werkes und Denkens De Certeaus, im zweiten Teil sollen anerkannte De Certeau Expert*innen aus der Theologie in das Seminar eingeladen werden, um gemeinsam ausgewählte Passagen  aus der Aufsatzsammlung „GlaubensSchwachheit“ und ihre Relevanz für eine zeitgenössische Theologie und Glaubenspraxis zu diskutieren.